Blog / Im Internet sind wir alle Draufgänger
Wir verhalten uns unvorsichtig und oft grob fahrlässig im digitalen Raum. Wir stimmen Verträgen zu, ohne sie gelesen zu haben, verteilen personenbezogene Daten von uns und anderen weltweit an Unternehmen und wir schicken sensible Daten per E-Mail ungeschützt an Freunde und Geschäftspartner. Anscheinend haben wir kein Gefühl dafür, welche Konsequenzen unsere Handlungen in der digitalen Welt haben.
Es stellt sich die Frage: Wie können wir das Ausmaß an unvorsichtigem Verhalten im Internet reduzieren? Können wir unsere Instinkte, die uns im sonstigen Leben zu Vorsicht und Besonnenheit leiten, auch im digitalen Raum aktivieren? Können wir so etwas wie eine digitale Intuition entwickeln?
Ursachen für das Fehlen von Instinkten und Intuition im digitalen Raum
Im analogen Leben ist das natürliche Verhalten von Menschen, Unbekanntem zunächst mit Vorsicht entgegenzutreten und sich zu vergewissern, dass keine Gefahr davon ausgeht. Im digitalen Raum scheint sich dieses instinktive Verhalten – eine Vorbereitung auf fight or flight – nicht einzustellen. Es folgt eine Sammlung von Hypothesen, die auf ihre Wirkung hin untersucht werden sollten:
- Instinkte sind stark an den Körper bzw. die körperliche Präsenz gebunden; die Entkörperlichung und Enträumlichung, die im digitalen Raum stattfindet, setzt die Instinkte daher weitgehend außer Kraft.
- Die Virtualität, die Tatsache, dass man „niemanden vor sich hat“, führt zu einem Gefühl von Privatheit und Anonymität. Es entsteht der Eindruck, nicht für die eigene Person zu handeln und damit auch von keinen potentiell negativen Konsequenzen betroffen zu sein.
- Das Fehlen von Haptik im digitalen Raum führt dazu, dass die eigenen Handlungen als weniger bedeutsam und damit auch als weniger kritisch wahrgenommen werden. („Klicken fühlt sich immer gleich an“)
- In der digitalen Welt entsteht tendenziell ein Gefühl von Zeitdruck, ein Eindruck, dass alles schnell gehen müsse (wieso das der Fall ist, könnte ebenfalls erforscht werden). Behinderungen im „Workflow“ – z.B. das Lesen von langen Verträgen – werden nicht toleriert.
- Herdentrieb / Schwarmverhalten: Instinktiv tendieren Menschen dazu, das Verhalten anderer nachzuahmen. („Wenn es alle tun, kann es so schlimm ja nicht sein.“)
- Potentielle negative Konsequenzen, die aus den Handlungen im digitalen Raum resultieren könnten:
- Sind abstrakt bzw. schwer greifbar, da es bisher nur wenige bekannte Beispiele für direkt Betroffene gibt.
- Liegen in der Zukunft, so dass der Vergleich des sofortigen Nutzens vs. dem in der Zukunft potentiell eintretenden, abstrakten Schaden i.d.R. zugunsten des Nutzens ausgeht.
- Die Endgeräte, mit denen das Internet genutzt wird – Smartphones und Computer – sind den Nutzern vertraut, sind ständiger Begleiter, verbinden die Nutzer mit Freunden, Familie und Kollegen und werden nicht selten mit ans Bett genommen. Durch das so entstehende Vertrauensverhältnis zum Endgerät wird die Welt „dahinter“ instinktiv als nicht bedrohlich wahrgenommen; ähnlich wie wir einem guten Freund vertrauen würden, uns in keine Gefahrensituation hineinzubringen.
In Anknüpfung an den letzten Punkt stellt sich auch die Frage, ob die junge Generation – die Digital Natives – besser oder weniger gut für die Verführungen und Gefahren der digitalen Welt gerüstet sind als andere Nutzer. Es lassen sich hier zwei gegensätzliche Hypothesen formulieren:
- Digital Natives sind mit dem Internet und dem Smartphone aufgewachsen, so dass die Skepsis gegenüber Endgeräten und dem Internet noch geringer ausgeprägt ist als bei älteren Nutzern. Es wird ein großer Teil des „Lebens“ auf Social Media Portalen kommuniziert. Digital Natives sind daher tendenziell schlechter gerüstet für die Gefahren im Internet.
- Für Digital Natives gehört die digitalen Welt von Anfang an zum Leben dazu und sie kennen sich so gut in dieser Welt aus, dass ihre Intuition dort ähnlich funktioniert wie im sonstigen Leben. Daher sind Digital Natives tendenziell besser gerüstet für die Gefahren im Internet.
Zielbild und Wege zum Ziel
Um Instinkte in den digitalen Raum zu übertragen, eine digitale Intuition zu entwickeln oder auch um eine persönliche Heuristik, die eine Verhaltensänderung bewirkt, auszubilden, müssen die Zusammenhänge und Konsequenzen des Handelns im Internet für Nutzer greifbar und begreifbar gemacht werden. Dafür kommen unterschiedliche Ansatzpunkte infrage:
- Aufklärung: Es muss ein allgemeines Problembewusstsein geschaffen werden. Dazu sollte ein klares Bild davon kommuniziert werden, welche zukünftigen negativen Konsequenzen das eigene Handeln im Internet haben kann. Hierzu könnte eine mediale Aufklärungskampagne für alle Nutzergruppen dienen. Die Sensibilisierung sollte dabei bereits frühzeitig – in Kindergärten und Schulen – ansetzen.
- Vorbilder schaffen: Da Menschen zur Imitation des Verhaltens v.a. Vorbildern neigen, könnten in einer Aufklärungskampagne bekannte Persönlichkeiten als Privatsphären-Botschafter auftreten. Diese könnten erklären, warum sie auf ihre persönlichen Daten im digitalen Raum achten und wie sie das tun.
- Lernen aus Erfahrung: Gute Lerneffekte werden besonders durch die unmittelbare persönliche Erfahrung erzielt. Durch eine Demonstration, welche Schlüsse aus den über die eigene Person vorhandenen Daten auf diese gezogen werden können, ließe sich die Bewusstseinsbildung bzgl. der Konsequenzen fördern.
- Vereinfachung: AGB und Datenschutzerklärungen, denen zugestimmt werden muss, sind meist lang und unverständlich geschrieben. Eine Verpflichtung der Anbieter, wesentliche Punkte in einer Art Abstract zusammenzufassen, könnte hier hilfreich sein. Ist eine solche Verpflichtung nicht möglich, könnte ggf. ein technischer Algorithmus zum Einsatz kommen, der auf kritische Passagen hinweist und diese für den Nutzer „dechiffriert“.
- Ad hoc Hinweise: Bei einem Klick auf „ich stimme zu“ könnte der Nutzer darauf hingewiesen werden, dass er gerade einen rechtsverbindlichen Vertrag eingeht. In Situationen, in denen er persönliche Daten von sich oder anderen preisgibt, könnte der Nutzer daran erinnert werden, welche Konsequenzen dies haben kann, welche Rückschlüsse sich mit diesen Daten ggf. ziehen lassen.
- Identität: Wenn der unbedachte Umgang im Internet dem Gefühl vermeintlicher Anonymität geschuldet ist, so könnte ein Verweis auf die Identität des Nutzers hilfreich sein. Dieser könnte daran erinnern, dass der Nutzer auch im digitalen Raum für eigene Rechnung handelt. Beispiel: „Möchten Sie, Max Mustermann, tatsächlich diesen Vertrag abschließen? Unterschreiben Sie bitte hier.“ (Digitale Signatur mit eigenem Namen).
- Verantwortungsbewusstsein: Datensicherheit und informationelle Selbstbestimmung können nur gemeinschaftlich erreicht werden. Jedem Nutzer muss bewusst werden, dass durch das eigene Nutzungsverhalten auch Daten anderer Personen aus dem eigenen Netzwerk preisgegeben werden (z.B. App-Berechtigungen, Zustimmung durch Dritte, usw.) und dass in einer vernetzten Gesellschaft jeder eine größere Verantwortung nicht nur für sich selbst trägt.
Es ist zu hoffen, dass diese und weitere Maßnahmen zu einem zunehmend bewussten und angemessenen Handeln im digitalen Raum führen und es nicht zuerst zu einer Datenschutz-Apokalypse – wie auch immer geartet – kommen muss, um entsprechende Veränderungen im Verhalten zu bewirken. Letztendlich müssen informationelle Selbstbestimmung, Privatsphärenschutz und Datensicherheit als sexy empfunden werden.
Packen wir’s an!